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Typos — passim: Who is to be the Master [= Who is to be Master]; p. 60: A Defense [= A Defence]; p. 60: The False Assumptions of Democracy [= The False Assumptions of "Democracy"] p. 60: A Defense [= A Defence]; p. 60, n. 364: A Defense [= A Defence]; p. 60, n. 365: A Defense [= A Defence]; p. 61: 1806 [= 1906]; p. 61, n. 369: Remininences [= Reminiscences]; p. 61, n. 368: The Specious Origin [= The Specious Origins]; p. 61, n. 370: Grenfield [= Grunfeld]; p. 61, n. 370: Melbourn [= Melbourne]; p. 62, n. 379: S.69–70 [= S.69–71]; p. 62, n. 379: natural-selectionist [= natural-selectionists]; p. 62, n. 379: through out [= threw out]; p. 63: The Twighlight of Idols [= The Twilight of Idols]; p. 63, n. 383: sickness, humility [= sickness and humility]; p. 66: system however [= system, however]; p. 66: that all belongs [= that all that belongs]; p. 66: findings [= finding]; p. 66, n. 409: A Defense [= A Defence]; p. 67: A Defense [= A Defence]


Anthony Mario Ludovici
Die Verteidigung der Aristokratie


In Die frühe politische Nietzsche-Rezeption in Großbritannien, 1895–1914
Eine Studie zur deutsch-britischen Kulturgeschichte

by Marita Knödgen
pp. 60–67

Dissertation Universität Trier,
Fachbereich III
1997


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4. Anthony Mario Ludovici: Die Verteidigung der Aristokratie

Nietzsche could not help but advocate the rearing of a select and aristocratic caste.
        (Anthony Mario Ludovici, Nietzsche: His Life and Works)

In der Zeit von 1909 bis 1911 übersetzte Anthony Mario Ludovici sechs Bände der Werke Nietzsches für die Levy-Edition und verfaßte vier Bücher über Nietzsche und seine Philosophie. 363 Auf dieser Grundlage entwickelte er eine politische Lehre, die sich für die Restauration einer aristokratischen Gesellschaftsordnung aussprach und die sich gegen Demokratie und Liberalismus wandte. Noch vor Beginn des Weltkrieges schrieb er A Defense of Aristocracy. 364 Nachdem er als Captain der Royal Air Force aus dem Krieg zurückgekehrt war, verfaßte er The False Assumptions of Democracy und A Defense of Conservatism. 365 In den Jahren vor dem Krieg und auch noch kurze Zeit nach 1918 war er einer der wichtigsten Mitarbeiter der von Orage herausgebenen The New Age. 366 Ludovici wurde in den dreißiger Jahren ein Anhänger Hitlers. In zwei Essays, die beide den Titel Hitler and Nietzsche hatten, die 1937 in der English Review gedruckt wurden, stellte er Hitler als den Staatsmann dar, der Nietzsches Philosophie der Umwertung der Werte in die Tat umsetzt. 367 Ludovici blieb seinen

        363 Ludovici übersetzte folgende Werke Nietzsches: Die Unzeitgemäßen Betrachtungen (Erster Teil), CW, Bd. IV, 1909; Der Fall Wagner. Wir Philologen, CW, Bd. VIII, 1911; Der Wille zur Macht, CW, Bde. XIV, XV, 1909, 1910; Die Götzendämmerung. Der Antichrist, CW, Bd. XVI, 1911; Ecce Homo (& Gedichte), CW, Bd. XVII, 1911.
        364 A.M.Ludovici, A Defense of Aristocracy, London 1915.
        365 A.M. Ludovici, The False Assumptions of "Democracy", London 1921. Ders., A Defense of Conservatism, London 1927.
        366 Siehe dazu auch Kapitel "Die New Age".
        367A.M.Ludovici, Hitler and Nietzsche, in: English Review 64/1937, S.44–52, 192–202.


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politischen Ansichten treu. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er politische Schriften gegen den Liberalismus und für eine von "starken Individuen" regierte Gesellschaft. 368
        Die schiere Menge der Übersetzungen von und Schriften zu Nietzsches Werken machten Ludovici zu einem der wichtigsten Mitarbeiter des Levy-Zirkels. Er war derjenige, der Oscar Levy am nächsten stand und der, zusammen mit John Macfarland Kennedy, die Arbeit in der Denkfabrik übernahm.
        Ludovicis Nietzsche-Interpretation verläuft dynamisch. Ihr Ausgangspunkt ist die des Darwinismus und Sozialdarwinismus. Der physiologische Schwerpunkt der Deutung von Nietzsches Werk wird um 1910 durch einen künstlerischen ersetzt, von dem aus Ludovici seine politischen Ideen entwickelt, die sich mehr und mehr von Nietzsches Werk lösen. Im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen Ludovicis Schriften und Aktivitäten vor 1920. Die Entwicklung seiner Nietzsche-Interpretation wird chronologisch dargestellt. Zur Erhellung bestimmter Aspekte werden jedoch gelegentlich die späteren Schriften hinzugezogen und schließlich wird auch Ludovicis Weg von Nietzsche zu Hitler zu erklären versucht.

Ludovici wurde 1882 in London geboren. Seine Bildung erfolgte durch privaten Unterricht, hauptsächlich durch seine Mutter, und im Ausland. Ob er dort eine Universität besucht hat, ist nicht bekannt. Er begann eine Karriere als Künstler und illustrierte mehrere Bücher. Im Jahr 1806 war er der Privatsekretär August Rodins. Er brach danach seine Tätigkeit als bildender Künstler ab und wurde Schriftsteller. Anthony Mario Ludovici diente als Captain der britischen Armee im ersten Weltkrieg. 369
        Wie Ludovici auf Nietzsches Werke gestoßen ist, beschreibt er in keinem seiner Bücher. Es ist jedoch denkbar, daß er von Nietzsche zum ersten Mal bei seiner Arbeit bei Rodin gehört hat. 370 In seinen Nietzsche-Büchern zitiert er die Werke des deutschen Philosophen aus den Übersetzungen von Common und Tille. Es ist daher anzunehmen, daß Ludovici, trotz seiner Deutsch- und Französischkenntnisse, Nietzsches Werke in den frühen englischen Übersetzungen kennengelernt hat. Dies würde auch erklären, warum er sich Nietzsches Philosophie von der Evolutionstheorie aus nähert.

Ludovicis erstes Nietzsche-Buch, Who is to be the Master of the World?, ist aus einer Vorlesungsreihe enstanden, die er 1908 an der University of London hielt. 371 1910 erschien Ludovicis zweites Nietzsche-Buch Nietzsche. His Life and Works. In beiden beschreibt er Nietzsche als einen "Evolutionisten" und "Soziologen": Nietzsche in one sense was a Darwinian. All his later works bear the unmistakable stamp of the Theory of Evolution as taught by our most celebrated naturalist, schreibt Ludovici in Who is to be the Master of the World. 372 Nach seiner Ansicht hat Nietzsche Darwins Theorie weiterentwickelt. Nietzsche halte den "struggle for existence" für eine unzureichende Erklärung. Das Leben strebe nicht nur ums Überleben, sondern um Macht. Nietzsche habe erkannt, daß es einen "Will to Power" gebe, der die treibende Kraft hinter dem Kampf einer jeden Spezies sei. Jedes Wesen kämpfe nicht nur um das Fortbestehen seiner Art, sondern es führe diesen Krieg mit der Absicht, die eigene Art zur dominierenden der Erde zu machen. 373 Dieser Kampf könne auf aggressive oder defensive Weise geführt werden. Daraus habe Nietzsche gefolgert, daß die Wertvorstellungen von "Gut und Böse" lediglich Waffen in der Schlacht um die Herrschaft über die Erde seien. Nietzsche habe als erster die Annahmen von "Gut und Böse" und die auf ihr fußende Moral in Frage gestellt und die Evolutionstheorie so weiterentwickelt, daß sie auf die

        368 A.M.Ludovici, English Liberalism, London 1939. Ders., The Quest of Human Quality. How to rear Leaders, London 1952. Ders., Religion for Infidels, London 1961. Ders., The Specious Origin of Liberalism. The Genesis of a Delusion, London 1967.
        369 Who was Who, Vol.VII., London 1981, S.482. A.M. Ludovici, Personal Remininences of August Rodin, London 1926.
        370 Frederic V. Grenfield, Rodin. A Biography, London Melbourn Auckland Johannesburg 1987, S.423–424.
        371 A.M.Ludovici, Who is to be the Master of the World? An Introduction to the Philosophy of Friedrich Nietzsche, Edinburgh London 1909, S.1, 58, 113, 153.
        372 Ludovici, Who ist to be the Master?, S.87.
        373 Ibid., S.32. Ludovici, Nietzsche, S.31–32.


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menschliche Gesellschaft angewendet werden könne. 374
        Nietzsche stehe auf Darwins Schultern, doch würden sich die Ansichten des deutschen Philosophen bezüglich der Evolutionslehre von denen seines "Vorgängers" abheben. Nietzsche würde sich nicht damit zufriedengeben, daß die Evolution mit der Entstehung des Menschen ihre höchste Ebene erreicht hätte. Er lehre einen "neuen Willen" zur Verbesserung der "Rasse". Er ziele auf die Erhöhung des Menschen und auf die Perfektion der menschlichen Gesellschaft mit dem Fernziel des Übermenschen im Visier. 375
        Bereits Huxley und Spencer hätten erkannt, daß "survival of the fittest" nicht gleichzusetzen sei mit "survival of the better and stronger", sondern, daß das Prinzip lediglich besage, daß diejenigen sich behaupten, die sich am besten anpassen könnten. 376 Nietzsche habe daraus richtig geschlossen, daß die Umgebung der ausschlaggebende Faktor sei. Wenn die Umgebung für niedere Wesen am günstigsten gestaltet sei, folge daraus, daß niedere Wesen am ehesten überlebten. Deshalb hätte Nietzsche eine härtere Gegenwart für die menschliche Gesellschaft gewünscht, um so ihrer Degeneration entgegenzuwirken. Die Gefahr für die Evolution sei, daß der Mensch bis zu einem bestimmten Grad seine Umgebung gestalten könne und dazu neige sich das Überleben zu erleichtern. Nietzsche wolle diesem degenerierenden Sog mit seiner "Umwertung der Werte" entgegenwirken. 377

Für Ludovici ist in diesem Stadium seiner Nietzsche-Rezeption die Verbindung zwischen Darwin und Nietzsche ganz eindeutig. Im Gegensatz zu Common nimmt er Nietzsches Antagonismus zu Darwin überhaupt nicht waren. Wenn man davon ausgeht, daß die Quellen für Ludovicis erste Nietzsche-Monographie die bis dahin ins Englische übersetzten Werke waren und daß der Autor zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Bände im Original gelesen hatte, ist dieses Mißverständnis leicht zu erklären, denn die ausführliche Kritik an Darwin und den Darwinisten übte Nietzsche in den Teilen seiner Werke, die Ludovici selbst in den folgenden drei Jahren in die englische Sprache übersetzen sollte. 378 Dennoch waren die Differenzen zwischen Nietzsche und Darwin für Ludovici wahrnehmbar. Er interpretierte sie als die konstruktive Kritik des deutschen Philosophen an der Lehre Darwins, mit dem Ziel, einen Fortschritt in der Evolutionstheorie zu bewirken. 379
        Ebenso wie Common versteht Ludovici Nietzsches Kritik am Christentum als Teil einer Evolutionslehre. Die christliche Morallehre sei eine Waffe des "schwachen Typus" im Kampf um die Macht des Lebens und Überlebens. 380 Das Christentum sei von einem bestimmten Typus Mensch geschaffen worden, um eben diesen Typus Mensch in der Evolution durchzusetzen. Nietzsche habe daraus folgend die Frage gestellt: Is the Christian religion, with its morality, tending to preserve and multiply a desirable type of man? To this last question Nietzsche replies most emphatically "No!". 381 Diese

        374 Ludovici, Who is to be the Master?, S.33–35. Ders., Nietzsche, S.26–28, 32.
        375 Ludovici, Who is to be the Master?, S.86–89. Ders., Nietzsche, S.66–67.
        376 Ludovici, Who is to be the Master?, S.91.
        377 Ibid., S.91–97. Ludovici, Nietzsche, S.69.
        378 CW, Bd. XVII, S.58; Bd. XIV, S.199, 202, 322, 337; Bd. XV, S.126–160. Die Kritik an Darwin, die in den bereits übersetzten Bänden The Joyful Wisdom und Beyond Good and Evil vorkommt, ist zu oberflächlich, um daraus Nietzsches Anti-Darwinismus erkenne zu können.(CW Bd. X, S.290, 306; Bd. XII, S.212.)
        379 Ludovici; Nietzsche, S.69–70: Upon this basis, then, the Will to Power, Nietzsche builds up a cosmogony which also assumes that species have been evolved; but again, in the processes of that evolution he is at variance with Darwin and all the natural-selectionist.(. . .) Darwin himself through out only a hint in this direction; that is why it is safe to suppose that, if Nietzsche and Darwin are ever reconciled, it will probably be precisely on this ground.". . ."Thus differing widely from the orthodox school of evolutionists, Nietzsche nevertheless believed their hypothesis to be sound.
        380 Ludovici, Nietzsche, S.34. Ders., Who is to be the Master?, S.39.
        381 Ludovici, Nietzsche; S.34.


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Erkenntnis, daß das Christentum die Durchsetzung des schwachen Menschen, des impotent, verkrüppelt, kränklich und schwach sei, und nicht des starken Menschentypus unterstütze, habe ihn zu der Kritik an den Fundamenten der christlichen Morallehre geführt: die christlichen Begriffe von "Gut und Böse". 382 Er habe die Gefahr der Degeneration der europäischen Rasse, hervorgerufen durch das Christentum, erkannt. 383
        Nietzsche habe gesehen, daß the worth of a religion is measured by its morality; because by its morality it moulds and rears men and reveals the type of man who ultimately wishes to prevail by means of it. 384 Daraus habe Nietzsche geschlossen, daß man wenn man einen höheren Menschentypus schaffen wolle, eine neue Moral formulieren müsse. Nach Nietzsche gebe es zwei Arten von Moral: die Herrenmoral und die Sklavenmoral, entsprechend der zwei Klassen von Menschen: Herrscher und Objekte. Beide Menschentypen kämpften um die Macht über die Existenz mit den Mitteln ihrer jeweiligen Moral. Für die herrschende Kaste sei alles "gut", das aus der Stärke, der Macht, der Gesundheit und dem Glück komme. Ihre motivierende Kraft sei der Wille ihre Überfülle an geistigem und physischem Reichtum abzugeben. "Böse" stehe für diese Gruppe der Menschheit für Eigenschaften wie Feigheit und Schwäche. Große Künstler, Gesetzgeber und Krieger gehören nach Ansicht Ludovicis zu dieser Kaste. Die zweite Klasse der Sklaven oder Objekte definiere Eigenschaften wie Sanftmut, Fürsorge, Selbstlosigkeit und Unterwürfigkeit als gut. Ihre motivierende Kraft sei Leiden zu umgehen. "Böse" sei für sie alles, was die Klasse der Herrscher besäße, die Überfülle an Kraft, Kreativität und Gesundheit. Zu dieser Klasse gehörten Demagogen, Pessimisten und Nihilisten, "geschmacklose" Künstler, Schriftsteller und Dramatiker und Märtyrer. 385 Je nach dem, welche Klasse die Oberhand im evolutionären Kampf gewinne, könne das Leben, wie es Nietzsche ausdrückt, "auf- oder absteigen". Nietzsche spreche sich für die "Herrenmoral" aus, um so das Aufsteigen des Lebens und die Durchsetzung des höheren Typus zu ermöglichen. 386 Die Aufgabe, die europäische Rasse in die Umwertung der Werte zu führen und so den Grundstein für ihre Höherentwicklung zu legen, habe Nietzsche den "neuen Philosophen" zugewiesen. 387
        Der Bezug zwischen Moral und "Rang" ist in Beyond Good and Evil eingearbeitet, ein Teil von Nietzsches Werk, das bereits 1907 veröffentlicht worden war und Ludovici deshalb zugänglich gewesen ist. 388 Die Ausführungen über Nietzsches "Herren- und Sklavenmoral" befinden sich in "Nietzsche. His Life and Works", ein Buch, das Ludovici erst 1910 veröffentlichte, nachdem er den ersten Teil von Der Wille zur Macht übersetzt hatte, und er die Übersetzung des zweiten Teiles und auch der Bände The Twighlight of Idols und The Antichrist vorbereitete. 389 Der Übersetzung lag in der von Elisabeth Förster-Nietzsche arrangierten Form vor. 390 Folglich befinden sich die Aphorismen zum Thema Moral und Rang gesammelt im Band The Will to Power I, im Kapitel II: A Criticism of Morality in der Folge "1.The Origin of moral Valuations - 2. The Herd - 3. General Observations concerning Morality - 4. How Virtue is made to Dominate - 5. The Moral Ideal - 6.

        382 Ludovici, Nietzsche, S.37. Ders., Who is to be the Master, S.126.
        383 Ludovici, Who is to be the Master, S.145: Do we not see in this morality of the present day, precisely the hindrance of power, the cultivation of an evil odour about all that is mighty, healthy, happy? and therefore the multiplication of that kind of people who possess the other, the opposite qualities; dependence, lowliness, impotence, sickness, humility. The results of the principles are already showing themselves, wherever we choose to look, not in thousands, but in millions of cases.
        384 Ludovici, Nietzsche, S.38.
        385 Ibid., S.41–46.
        386 Ibid., S.47.
        387 Ludovici, Who is to be the Master?, S.58.
        388 CW, Bd. XII, S.167, 175.
        389 CV, Bd. XIV, 1909; Bd. XIV, 1911; Bd. XV, 1911.
        390 Karl Schlechta, Friedrich Nietzsche. Werke V; München 1969 (ND 1969), S.1383–1432 (Philologischer Nachbericht).


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Concluding Remarks concerning the Criticism of Morality". 391 Diese Ordnung der Aphorismen gibt den Aussagen Nietzsches ein komprimiertes Erscheinungsbild, und läßt Nietzsches Gedanken systematischer anmuten, als der Autor dies beabsichtigte.
        Die Übersetzung des Werkes und insbesondere des aufgeführten Kapitels hatte nachhaltigen Einfluß auf Ludovicis Nietzsche-Interpretation. Die Erweiterung seiner Nietzsche-Auslegung kommt besonders deutlich in seinen Darlegungen der "soziologischen" Vorstellungen Nietzsches zum Ausdruck.

Bereits in Who is to be the Master? besteht Ludovici darauf, daß Nietzsches Philosophie ein soziologisches System beinhalte: To define Nietzsche's system of sociology in a sentence, would be to call it an oligarchy, led onward by an ideal type of man, which the higher caste is ever trying to realize and surpass. 392 In Nietzsches Ermessen seien die Menschen nicht gleich. Eine graduelle Rangordnung in der Gesellschaft sei absolut notwendig um eine "Erhöhung" des Menschen zu bewirken. Dazu gehöre auch eine Rechtsungleichheit. Der Sozialismus könne eventuell ein Übergangsstadium zu Nietzsches Gesellschaftsystem sein, jedoch sei die Gefahr zu groß, daß er in eine Sackgasse führe, und vor der Entwicklung des "höheren Menschen" stehen bleibe. 393
        In Nietzsche. His Life and Works gewinnt Ludovicis Beschreibung von Nietzsches "soziologischem System" an Kontur. Nietzsche stelle sich die Rangordnung der Gesellschaft in Form einer Pyramide vor, die eine breite Basis habe. Nach Nietzsches Ansicht müsse eine jede solide Gesellschaft ein breites Fundament aus "Mittelmäßigkeit" besitzen. Die soziale Pyramide verlaufe langsam zur Spitze; letztere würde nur aus wenigen, vielleicht sogar nur einem Menschen bestehen.
        Am oberen Teil des Gebildes befänden sich die geistig Überlegenen, die sowohl Verantwortung tragen als auch Härte aushalten könnten. Neben ihnen befände sich die Kaste der "Krieger", der physisch Starken, die Recht und Ordnung wahren würden. Unter diesen beiden Kasten befänden sich die Verwalter, die die Werte und Ideen der ersten Gruppe ausführten.Unter jenen befände sich die breite Basis der Mediocre, zu denen die Handwerker, Bauern, Naturwissenschaftler, der größte Teil der Geisteswissenschaftler und der Handel zählen. Unter diesen wiederum befindet sich die Schicht der very base, die glücklich sind, wenn sie dienen dürfen, weil sie sonst keinen Wunsch und keine Befähigung besitzen. 394
        Auch Ludovici nimmt hier, wie Levy und Common, Nietzsches Begriff von der "neuen Aristokratie" auf: Nietzsche could not help but advocate the rearing of a select and aristocratic caste, and in none of his exhortations is he more sincere than when he appeals to higher men to sow the seeds of a nobility for the future. 395 Ludovici ist sich sicher, daß Nietzsche ein überzeugter Anhänger von Tradition, Disziplin und Ordnung sei und deshalb einer aristokratischen Ordnung der Gesellschaft den Vorzug gebe. 396

Ludovici gibt als Quelle für seine Beschreibung von "Nietzsches Gesellschaftsordnung" einen Aphorismus aus The Antichrist an. 397 An dieser Stelle legt Nietzsche die Gesellschaftordnung dar, die Ludovici als die "soziale Pyramide" beschreibt. Jedoch gibt Nietzsche in seinen Ausführungen nur drei Schichten an, während Ludovici die vierte der "base" hinzufügte. Ludovici ist offensichtlich nicht sehr besorgt um die akurate Wiedergabe von Nietzsches Aussagen. Im großen und ganzen verfälscht Ludovici jedoch kaum das Original, im Gegenteil in seinen Monographien stützt er seine Darlegungen mit zahlreichen Zitaten. Seine Beschreibungen von Nietzsches Philosophie sind jedoch sehr selektiv. Sie beschränken sich

        391 CW, Bd. XIV, S.210–320.
        392 Ludovici, Who is to be the Master?, S.168.
        393 Ibid., S.166–173.
        394 Ludovici, Nietzsche, S.84–85.
        395 Ibid., S.81–82.
        396 Ibid., S.79, 81.
        397 Vgl., CW, Bd. XVI, S.219. Ludovici, Nietzsche, S.83.


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auf Nietzsches Vorstellungen vom höheren Menschen und vom Übermenschen sowie von seiner mit ihnen verbundenen Morallehre. Die Sinnverdrehung entsteht erst dann, wenn Ludovici eine Verbindungslinie zwischen Nietzsches Ideen und dem Darwinismus zieht und Nietzsches abstrakte Reflektionen über die Natur der menschlichen Gesellschaft aus dem Kontext der Diskussion um das Buch Manu herauslöst und damit einen Entwurf für eine zu schaffende Gesellschaftsordnung darstellt. Obwohl Ludovici große Teile vom Nietzsches Werken durch seine Übersetzungen im Detail gekannt haben muß, bewahrt ihn dies nicht vor der eklektischen Aufnahme von Nietzsches Werk. Wie auch bereits Common vor ihm, kennzeichnet Ludovici Nietzsches Philosophie als systematisch: However incredible the statement may sound, it is nevertheless true, that Nietzsche's philosophy actually constitutes one regularly organised whole.[. . .] The surprise of those who accuse him of want of system however, will probably increase considerably, when they hear that even his moral values cannot be isolated and studied apart, that they must be understood through his sociology and in the light of his ideal man. 398 Beide Übersetzer der beiden englischen Fassungen von Götzendämmerung ignorierten Nietzsches offenes Mißtrauen und seine ablehnende Haltung gegenüber den Systemen und den Systematikern. 399

Auch in der zweiten Vorlesungsreihe, die Ludovici am University College London im November und Dezember 1910 hielt und die 1911 unter dem Titel Nietzsche and Art veröffentlicht wurde, hielt er daran fest, daß Nietzsches Philosophie eine "harmonische", planmäßige Ordnung unterliege. 400 Gleichzeitig äußert er jedoch auch Zweifel an seinen bisherigen Auslegungen: If it were not for the fact that the whole of his thought is, as it were, of one single piece, harmoniously and consistently interwoven, I should doubt that I selected the more vital portion of it; for it is impossible to overestimate the value of art in his doctrine. 401
        In seinem dritten Nietzsche-Buch ist nicht mehr die Evolutionslehre der Ausgangspunkt seiner Interpretation, sondern die Rolle der Kunst. Ludovici bezeichnet Darwins und Spencers Evolutionslehren jetzt als vulgär und mechanistisch. Nietzsche sei der erste gewesen, der erkannt habe, daß das "Werden" von neuen Grundsätzen, die von denen Darwins abweichen, getragen werden müßten.
        Ludovici sieht eine enge Verflechtung der Kunst mit der Politik, der Gesellschaft und der Evolution. Er unterscheidet zwei Arten der Kunst, "the art of inner poverty", zu er den Realismus und die "demokratische Kunst" zählt, und ihr Gegensatz "the ruler art", wobei er der letzteren den Vorzug gibt. "Ruler Art" könne nur in einer aristokratischen Gesellschaft aufblühen, die drei "aristokratischen" Grundprinzipien den Vorrang gebe: Kultur, Selektion und Einfachheit. 402 Den "Ruler Artist" definiert Ludovici als den, der seinen eigenen Typus gegen alle anderen Typen durchsetzen will, und so die Werte seines Typus akzentuiert. Er ist entweder der Schöpfer oder das Produkt einer "aufsteigenden" Menschheit. Er errichtet eine Rangordnung in seiner Gesellschaft. 403 Es sei die Aufgabe des Künstlers, die Wirklichkeit sinnstiftend zu interpretieren. Seine Willensmacht bewege ihn dazu, seine Wertvorstellungen den Mitmenschen aufzudrängen. Diese Funktion des Künstlers könne sich negativ oder positiv auswirken. 404 Ludovici kritisiert die Kunst seiner Gegenwart. Der Geschmack der Massen sei nun eine starke Macht in der Europäischen Kunst geworden. Der Künstler habe sich nun dem Mob zu unterwerfen. Ludovici sieht die Ursache in der Dominanz der christlichen Wertvorstellungen, vor allem in dem Glauben an die Gleichheit der Menschen, an die Unüberwindlichkeit der menschlichen Verderbtheit und an die Existenz der absoluten Wahrheit. Diese Denkweise sei für den Künstler fatal, der an die Effektiviät der menschlichen Schaffenskraft und an die

        398 Ludovici, Who is to be the Master, S.157–158.
        399 CW, Bd. IX, S.271; Bd. XVI, S.5.
        400 A.M.Ludovici, Nietzsche and Art, London 1911.
        401 Ibid., S.3.
        402 Ibid., S. vi.
        403 Ibid., S.137–138.
        404 Ibid., 86.


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Macht den menschlichen Willens glauben müsse, um wirken zu können. 405 Der demokratische Geist seiner Zeit und "Ruler-Art" schließen sich nach Ludovicis Ansicht voneinander aus. Kunst als die Manifestation des Willens zur Macht des Künstlers kämpft gegen die Gefahren, die die demokratische Gegenwart mit sich bringt. 406 We live in a democratic age. It is only natural, therefore, that all belongs to the ruler should have been whittled down, diluted, and despoiled of its dignity; and we must feel no surprise at findings that no pains have been spared which might reduce Art also to a function that would be compatible with the spirit of the times. 407
        Jedoch gibt Ludovici die Hoffnung nicht auf. Trotz Demokratie seien zwei menschliche Faktoren dieselben geblieben: der allgemeine Wunsch der Massen zu gehorchen und zu folgen und der allgemeine Wunsch der höheren Menschen zu dominieren. 408 Daher könne die Höherentwicklung des Menschen durch die "Ruler-Art" neu belebt werden.

In seinem nächsten Buch, A Defense of Aristocracy, versucht Ludovivi durch eine Kritik an der britischen Aristokratie und Vorschlägen zu ihrer Neugestaltung sein Verständnis von Nietzsches "Soziologie" in die Praxis umzusetzen. 409 Die Bildung einer neuen Aristokratie steht jetzt im Mittelpunkt seiner Betrachtungen.
        Die Aristokraten selbst hätten die Grundsätze der aristokratischen Ordnung ad absurdum geführt. Das bedeute jedoch nicht, daß die aristokratischen Prinzipien an sich falsch seien. Der "ruler-aristocrat" trage die Verantwortung für die Massen und könne nur mit ihrer Zustimmung regieren. Jeder Nation würden Herrschernaturen geboren, die sich jedoch nur in den privilegierten Bedingungen eines aristokratischen Umfeldes entfalten könnten. Die Herrscherqualitäten müßten durch lange Tradition über Generationen kultiviert werden. Dauer und Stabiliät seien unerläßliche Konditionen für die Entwicklung des "höheren" Menschen. 410 Die englischen Aristokratie habe jedoch auf verschiedenen Ebenen gefehlt. Sie habe in der Entwicklung des industriellen Systems darin versagt, ihre Schutzfunktionen gegenüber den Armen einzunehmen. 411 Sie sei auch schuld am Verfall des eigenen Standes, denn sie habe nicht vermocht, ihren Nachkommen die aristokatischen Wertvorstellungen weiterzuvermitteln. Die Aristokratie habe deshalb den zersetzenden Wirkungen der industriellen Entwicklung nicht standhalten können. 412
        Ludovici will eine Restauration der Aristokratie mit den Merkmalen von Nietzsches "Neuem Adel" realisieren. Zunächst müßten einige wenige Familien, die die wichtigsten Eigenschaften, wie kultivierten Geschmack, gutes Urteilsvermögen besäßen und in denen eine instinktive Einschätzung von "Gut und Böse" gepflegt würde, rekrutiert werden. Diese sollten keineswegs ausschließlich aus den Reihen der alten englische Aristokratie stammen, denn zu viele von ihnen hätten sich ihrer aristokratischen Aufgaben als unwürdig erwiesen. Auch im englischen Mittelstand seien Familien mit den adäquaten Eigenschaften zu finden. Durch Bildungs- und Heiratsgesetze sollte ihre Entwicklung zur, höheren Menschen garantiert werden. Nur die Besten sollten eine höhere Bildung genießen dürfen, alle anderen sollten ihre Bildung frühzeitig abbrechen müssen, denn wenn ihnen die richtige aristokratische Grundeinstellung fehle, könne ihnen Wissen mehr schaden als nützen. In der Erziehung der jungen Aristokraten müsse das Einüben von Willensstärke und Selbstdisziplin stehen. Denn nur wer sich selbst unter Kontrolle habe, könne Kontrolle über andere ausüben. Es solle den Aristokraten nur erlaubt sein unter ihresgleichen zu heiraten. Nicht Glück sollte das Ziel der aristokratischen Ehe sein, sondern Fortbestand der aristokratischen

        405 Ibid., S.21, 45.
        406 Ibid., S.99
        407 Ibid., S.98.
        408 Ibid., S.111.
        409 A.M.Ludovici, A Defense of Aristocracy, London 1915.
        410 Ibid., S.1–28.
        411 Ibid., S.77–103.
        412 Ibid., S.31–76.


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Qualitäten und Prinzipien. 413
        In Ludovicis A Defense of Aristocracy spiegelt sich Nietzsches Kritik am Verfall der europäischen Aristokratie, seine Charakterisierung der "Neuen Aristokratie", seine Einstellung zur Ehe und zur Bildung wieder. In Beyond Good and Evil konnte er Nietzsche Kritik an der französische Aristokratie und seine Erklärung für ihren Verfall nachlesen. Sie habe nicht erkannt, daß die Gesellschaft nicht um ihrer selbst willen bestünde, sondern nur ein Gerüst sei, an dem die wertvolleren Menschen sich in die Höhe rankten. Nietzsche fordert eine "Neue Aristokratie", die diesem Verständnis entspricht. 414 Im zweiten, von Ludovici übersetzten Band, The Will to Power, bescheibt Nietzsche die Funktion der adeligen Ehe als die Züchtung einer Rasse, zu deren Zweck Mann und Frau geopfert werden. Der Stand sei das auschlaggebende Auswahlkriterium der Eheleute. 415 In seinem Essay über die Zukunft der Bildungsanstalten spricht sich Nietzsche gegen die Bildung der Massen aus und fordert, das Recht auf Bildung für wenige auserlesene Menschen zu reservieren. 416

Nietzsches Name wird in den Büchern, die Ludovici nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg schrieb, nicht mehr erwähnt. Erst 1937 kehrt Ludovici zum Thema Nietzsche zurück. In der English Review erscheinen zwei Aufsätze über Hitler and Nietzsche. 417 Ludovici war nicht nur ein passiver Kommentator des deutschen Nationalsozialismus, sondern aktiver Teilnehmer an nationalsozialistischen Veranstaltungen in Deutschland und leitete außerdem zwei öffentliche Debatten in England zum Thema "New Germany". 418 Er bewertete den Einfluß von Nietzsches Philosophie auf den Nationalsozialismus und Hitler positiv. Indikatoren für die Einwirkung sah er im prä-sokratischen Hellenismus der NSDAP-Ideologie, die eindeutig auf Nietzsche zurückzuführen sei. Vor allem Hitlers Kunstverständnis sei dem Nietzsches verwandt. Der "Führer" verstehe Kunst als den Ausdruck des Lebens eines Volkes und die Krönung ihrer Wertehierarchie. Nationale Kunst sehe er daher als eine Notwendigkeit. Die Aufgabe von nationaler Kunst sei es, das Beste des "Volksbestandes" zu glorifizieren. Ludovici sieht hier die Verbindung zwischen nationalsozialistischem Kunstverständnis und Eugenik, die er auch schon in seinen frühen Nietzsche-Interpretationen herstellte. Die Nationalsozialisten versuchten den minderwertigen Bestand an der Fortpflanzung zu behindern, diese eugenische Gesetzgebung sei ein weiteres Merkmal für Nietzsches Einfluß. In der Ablehnung der Demokratie und der parlamentarischen Regierungsform erkennt Ludovici weitere Parallelen zwischen Hitler und Nietzsche. 419 Beide wollten eine "aristokratische Regierungsform" einführen. Affinitäten bestünden auch in der Einstellung zur Frau. Beide, Hitler und Nietzsche, versuchten den Frauen die Möglichkeit zu garantieren, zu heiraten und Kinder zu gebären. Auch die Rolle der Arbeiter schätze er gleich ein. Die Arbeiter sollten sich nicht dem Kapital versklaven, sondern Freude und Erfüllung in ihrer Tätigkeit finden. 420
        Ludovicis Hinwendung zum Nationalsozialismus führte zu scharfen Auseinandersetzungen mit seinem Mentor Levy in den dreißiger Jahren, dessen Konservativismus nicht nationalistisch war und der sich gegen den Nationalsozialimus stellte. 421

        413 Ibid., S.420–428.
        414 CW, Bd. XII, S.224–225.
        415 CW, Bd. XV, S.192.
        416 CW, Bd. III, S.74.
        417 A.M. Ludovici, Hitler and Nietzsche, in: English Review 64/1937, S.44–52, 192–202.
        418 Hitler and Nietzsche I., S.46; Hitler and Nietzsche II, S.193.
        419 Hitler and Nietzsche I, S.44–45, 49–52.
        420 Hitler and Nietzsche II, S.192–200.
        421 Gespräch mit Maud Rosenthal geb. Levy und Albi Rosenthal, März 1991.

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